Was ist Autismus?

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die als Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wird. Diese tritt in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und zeigt sich in drei Bereichen:

  • Problemen im sozialen Umgang (z. B. beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen)
  • Auffälligkeiten bei der Kommunikation (sprachliche und nicht-sprachliche Verständigung)
  • eingeschränkten Interessen mit stereotypen, sich wiederholenden Verhaltensweisen

Aufgrund ihrer Einschränkungen benötigen die meisten Autisten eine lebenslange Hilfe und Unterstützung. Autismus ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung, jedoch gehört Intelligenzminderung zu den häufigen zusätzlichen Einschränkungen. Trotz umfangreicher Forschungsanstrengungen gibt es derzeit keine allgemein anerkannte Erklärung der Ursachen autistischer Störungen.

Das aktuelle ICD-10 unterscheidet noch zwischen verschiedenen Formen von Autism (z. B. frühkindlichem Autismus, dem Asperger-Syndrom und dem atypischen Autismus). Das DSM-5 und das ICD-11 (für 2018 erwartet) hingegen unterscheiden keine Subtypen mehr und sprechen nur noch von einer allgemeinen Autismus-Spektrum-Störung (ASS; englisch autism spectrum disorder, kurz ASD). Grund für diese Änderung war die zunehmende Erkenntnis in der Wissenschaft, dass eine klare Abgrenzung von Subtypen (noch) nicht möglich ist – und man stattdessen von einem fließenden Übergang zwischen milden und stärkeren Autismusformen ausgehen sollte.

Häufigkeit

Eine Analyse von 11.091 Interviews von 2014 durch das National Center for Health Statistics der USA ergab eine Häufigkeit (Lebenszeitprävalenz) des ASS von 2,24 % in der Altersgruppe 3–17 Jahre, 3,29 % bei Jungen und 1,15 % bei Mädchen. Eine Übersicht von 2015 zeigte, dass die Zahlen zur Geschlechterverteilung wegen methodischer Schwierigkeiten stark variierten. Das Verhältnis männlich-weiblich betrage jedoch mindestens 2:1 bis 3:1, was auf einen biologischen Faktor in dieser Frage hindeute.

Die Zahl der Autismus-Fälle scheint in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen zu sein. Die Centers for Disease Control (CDC) in den USA geben einen Anstieg der Autismusfälle um 57 % an (zwischen 2002 und 2006). 2006 war 1 von 110 Kindern im Alter von 8 Jahren von Autismus betroffen. Obwohl bessere und frühere Diagnostik eine Rolle spielt, kann laut CDC nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil des Anstiegs auf eine tatsächliche Erhöhung der Fälle zurückzuführen ist.

Früher gab es den Verdacht, dass Umweltgifte oder Impfstoff-Zusätze die Entstehung von Autismus begünstigen könnten. Nach dem Stand von 2017 gilt letzteres als widerlegt und ersteres als nicht ausreichend erforscht.

Folgende Faktoren spielen bei der Zunahme der Fallzahlen in jüngerer Zeit eine Rolle:

  • Der häufigere Besuch von Kindergärten und die frühere Einschulung der Kinder erhöhen die Chance, dass Autismus entdeckt wird.
  • Eltern beobachten heute aufmerksamer, ob sich ihre Kinder „normal“ entwickeln. Früher brachte man oft ein Kind erst dann zum Arzt, wenn es auffällig spät sprechen lernte.
  • Die Definition von Autismus ist verbreitert worden, so dass mehr Kinder als autistisch diagnostiziert werden.

In der Vergangenheit wurde Autismus oft unter kindlicher Schizophrenie oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eingeordnet.

Folgen und Prognose

Autismus kann die Entwicklung der Persönlichkeit, die Berufschancen und die Sozialkontakte erheblich beeinträchtigen. Der Langzeitverlauf einer Störung aus dem Autismusspektrum hängt von der individuellen Ausprägung beim einzelnen Patienten ab. Die Ursache des Autismus kann nicht behandelt werden, da sie nicht bekannt ist. Möglich ist lediglich eine unterstützende Behandlung in einzelnen Symptombereichen.

Andererseits sind viele Schwierigkeiten, über die autistische Menschen berichten, durch Anpassungen der Umwelt vermeidbar oder verminderbar. Beispielsweise berichten manche von einem Schmerzempfinden für bestimmte Tonfrequenzen. Solchen Menschen geht es in einem reizarmen Umfeld deutlich besser. Eine autismusgerechte Umwelt zu finden bzw. herzustellen ist deshalb ein wesentliches Ziel.

Kommunikationstraining für Autisten sowie für deren Freunde und Angehörige kann für alle Beteiligten hilfreich sein und wird beispielsweise in Großbritannien von der National Autistic Society angeboten und wissenschaftlich weiterentwickelt. Eine zunehmende Zahl von Schulen, Colleges und Arbeitgebern speziell für autistische Menschen demonstriert den Erfolg, Autisten in autismusgerechten Umfeldern leben zu lassen.

Die autistischen Syndrome gehören nach dem (deutschen) Schwerbehindertenrecht zur Gruppe der psychischen Behinderungen. Nach den Grundsätzen der Versorgungsmedizin-Verordnung beträgt der Grad der Behinderung je nach Ausmaß der sozialen Anpassungsschwierigkeiten 10 bis 100.

Über den Langzeitverlauf beim Asperger-Syndrom gibt es noch keine Studien. Hans Asperger selbst nahm einen positiven Langzeitverlauf an. In der Regel lernen Menschen mit Asperger-Syndrom im Laufe ihrer Entwicklung, ihre Probleme – abhängig vom Grad ihrer intellektuellen Fähigkeiten – mehr oder weniger gut zu kompensieren. Der britische Autismusexperte Tony Attwood vergleicht den Entwicklungsprozess von Menschen mit Asperger-Syndrom mit der Erstellung eines Puzzles: Mit der Zeit bekommen sie die einzelnen Teile des Puzzles zusammen und erkennen das ganze Bild. So können sie das Puzzle (oder Rätsel) des Sozialverhaltens lösen. Schließlich können Menschen mit Asperger-Syndrom einen Status erreichen, in dem ihre Störung im Alltag nicht mehr auffällt.

Im Berufsleben

Hinsichtlich Ausbildung und Beruf muss der individuelle Entwicklungsstand des Einzelnen berücksichtigt werden. Sind Intelligenz und Sprachentwicklung normal ausgeprägt, können ein reguläres Studium oder eine reguläre Berufsausbildung absolviert werden. Andernfalls kann etwa eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Frage kommen. In jedem Fall ist es für die Integration und das Selbstwertgefühl autistischer Menschen wichtig, einer Tätigkeit nachgehen zu können, die ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen entspricht.

Einerseits kann der Einstieg ins reguläre Berufsleben problematisch werden, da viele Autisten die hohen sozialen Anforderungen der heutigen Arbeitswelt nicht erfüllen können. Verständnisvolle Vorgesetzte und Kollegen sind für Menschen mit Autismus unerlässlich. Wichtig sind außerdem geregelte Arbeitsabläufe und überschaubare Sozialkontakte.

Auf der anderen Seite sind Menschen mit Autismussyndrom und den damit unter Umständen verbundenen Teilleistungsstärken („Inselbegabung“) teilweise gerade besonders gut für bestimmte Berufe bzw. Tätigkeiten geeignet, z. B. in der Informatik usw. Teilweise existieren besondere Vermittlungsagenturen: In einem ökologischen Weltbild geht es darum, dass sehr unterschiedliche Menschen, die in einem „Ökosystem“ zusammenleben (im Falle des Menschen einem sozio-ökonomischen Ökosystem) passende Nischen finden, in denen sie gut zurechtkommen. Eine autismusgerechte Umwelt zu finden bzw. herzustellen, beispielsweise spezialisierte Schulen, ist daher ein wesentliches Ziel.

  • In den USA gibt es Zentren, die erwachsenen Autisten Arbeitsplätze vermitteln, gegebenenfalls in Kombination mit betreutem Wohnen.
  • Die dänische Zeitarbeitsfirma Specialisterne demonstriert den Erfolg, Autisten in autismusgerechte Umfelder zu vermitteln. Die Firma plant, auch in anderen Ländern etwa in Datenbankführung oder Programmierung zu vermitteln – Berufsfelder u. a., in denen oft speziell begabte Menschen mit Autismus sogar besser als andere sein können. Derart lässt sich etwa ein phänomenales Zahlengedächtnis einsetzen – stets ohne geräuschvolles Großraumbüro und mit mäßiger Arbeitszeit usw.
  • Ende 2011 wurde in Berlin die Firma Auticon gegründet. Sie hat sich darauf spezialisiert, die oft enormen Begabungen von Menschen mit Asperger-Autismus zum Beispiel in der Qualitätskontrolle von Software zu nutzen.
  • Die israelischen Streitkräfte setzen Autisten bevorzugt bei der Auswertung von Luftfotos ein.

Der richtige Arbeitsplatz für Autisten, der besondere Eigenarten der Autisten berücksichtigt, kann schwieriger zu finden, aber oft auch sehr erfüllend sein. Spezialisierte Berufsberatungen für das Autismusspektrum gibt es kaum, da für Autisten in Deutschland die Integrationsämter zuständig sind.

Der britische Psychologe Attwood schreibt über die Diagnose von leicht autistischen Erwachsenen, dass diese teilweise gut zurechtkommen, wenn sie etwa einen passenden Arbeitsplatz gefunden haben, aber im Fall von Krisen – etwa durch Erwerbslosigkeit – von ihrem Wissen über das Asperger-Syndrom zur Bewältigung von Krisen profitieren können.

Auties und Aspies

Die Ausprägungen von Autismus umfassen ein breites Spektrum. Viele Menschen mit Autismus wünschen sich keine „Heilung“, da sie Autismus nicht per se als Krankheit, sondern als normalen Teil ihres Selbst betrachten. Viele Erwachsene mit leichterem Autismus haben gelernt, mit ihrer Umwelt zurechtzukommen. Sie wünschen sich statt Pathologisierung oft nur die Toleranz und Akzeptanz durch ihre Mitmenschen. Auch sehen sie Autismus nicht als etwas von ihnen Getrenntes, sondern als integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit.

Die australische Künstlerin und Kanner-Autistin Donna Williams hat in diesem Zusammenhang den Begriff Auties eingeführt, der sich entweder speziell auf Menschen mit Kanner-Autismus oder allgemein auf alle Menschen im Autismus-Spektrum bezieht. Von der US-amerikanischen Erziehungswissenschaftlerin und Asperger-Autistin Liane Holliday Willey stammt die Bezeichnung Aspies für Menschen mit Asperger-Syndrom. Die Psychologen Tony Attwood und Carol Gray richten in ihrem Essay Die Entdeckung von „Aspie“ den Blick auf positive Eigenschaften von Menschen mit Asperger-Syndrom. Die Begriffe Auties und Aspies wurden von vielen Selbsthilfeorganisationen von Menschen im Autismusspektrum übernommen.

Um dem Wunsch vieler Autisten nach Akzeptanz durch ihre Mitmenschen Ausdruck zu verleihen, feiern einige seit 2005 jährlich am 18. Juni den Autistic Pride Day. Das Schlagwort der Autismusrechtsbewegung – „Neurodiversität“ (neurodiversity) – bringt die Idee zum Ausdruck, dass eine untypische neurologische Entwicklung einem normalen menschlichen Unterschied entspreche, der ebenso Akzeptanz verdiene wie jede andere – physiologische oder sonstige – menschliche Variante.

  • Quelle: Wikipedia (gekürzt und abgeändert)